Die 1990er Jahre Das deutsch-deutsche Handwerk auf dem Weg in die gemeinsame Zukunft

„Wir müssen den Mittelstands-Bazillus in die DDR tragen“, ruft ZDH-Präsident Heribert Späth im Januar 1990 auf. Das Handwerksjahr 1990 ist geprägt vom Mauerfall und den Veränderungsprozessen auf dem Weg zur deutschen Einheit. Die Deutsche Demokratische Republik ist nach dem Mauerfall am 9. November 1989 im Umbruch, was auch die Wirtschaft vor starke Herausforderungen stellt. Das DDR-Handwerk unter staatlicher Direktive ist Geschichte.

Die 1990er Jahre
Juraschek
Hauptgeschäftsführer Karl-Jürgen Wilbert (l.) und Reiner Brüderle (r.) bei den "Info-Tage DDR"

Immerhin gibt es 81.000 private Handwerksbetriebe mit 14.000 Lehrlingen und 262.000 Beschäftigten, die 59 Prozent des Handwerksumsatzes in der DDR erwirtschaften. Mit Blick auf das DDR-Gesamthandwerk gibt es außerdem die handwerklichen Produktionsgenossenschaften mit 2.700 Betrieben, 11.000 Lehrlingen und 166.000 Beschäftigten, auf die 41 Prozent des Gesamtumsatzes fallen. Das DDR-Handwerk ist 1990 also mehrheitlich in privater Hand – eine gute Ausgangslage.

Gerade mit diesen Betrieben entwickelt sich zügig und lange vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober ein enger Schulterschluss zwischen dem Ost- und Westhandwerk. Ist der Weg Richtung Zukunft für die DDR-Volkswirtschaft mit ihren maroden Betrieben und überholten Angeboten alles andere als rosig, beweist das Handwerk eine starke Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an sich ständig verändernde wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen.

Mit der Einrichtung einer DDR-Beratungsstelle für Handwerksbetriebe reagiert die HwK Koblenz zügig auf die neue Lage. Und auch in der DDR ist die Koblenzer Kammer aktiv. Die Leipziger Frühjahrsmesse im März 1990 bietet dem „West-Handwerk“ vom Mittelrhein eine Bühne, die begeistert. Eine Woche vor den ersten freien Wahlen in Ostdeutschland präsentieren lebende Werkstätten und Info-Stände auf dem Leipziger Sachsenplatz die ganze handwerkliche Bandbreite – vom Amboss bis zum Computer. Am Stand der Bäcker gibt es „Kowelenzer Kräppel“ – und eine Menschenschlange Wartender von 100 Metern Länge!

Im Mai 1990 geht der deutsch-deutsche Handwerksdialog in die nächste Runde. 400 DDR-Handwerksexperten tagen auf Einladung der HwK Koblenz in der Stadthalle Ransbach-Baumbach. Mit dabei: der rheinland-pfälzische Wirtschaftsminister Rainer Brüderle. „Wir wollen in erster Linie die Klein- und Mittelbetriebe stärken, nicht die großen Wirtschaftsriesen. Dabei gehen wir den Weg über unsere Kammern, die die richtigen Ansprechpartner in der DDR kennen.“

Doch viele Ostdeutsche planen ihre Zukunft westwärts der DDR – wovon das Handwerk im Kammerbezirk durchaus profitiert. 10.000 Fachkräfte aus Ostdeutschland wurden seit dem Mauerfall in Handwerksbetrieben neu eingestellt – das ergibt eine Umfrage unter 3.400 Betriebsinhabern im April. Die attestieren der Bundespolitik, sich durch die Parteien nicht richtig vertreten zu fühlen (90 Prozent). Zusammengefasst ergibt sich aus der Abfrage: „Das Handwerk, politisch gesehen, ist kritisch, aber nicht extrem“. Politische Randgruppen und Extreme werden von 75 Prozent abgelehnt, „die Grünen und die Republikaner sind nicht koalitions- und damit auch nicht regierungsfähig.“

Um die Zukunft der „provisorischen Bundeshauptstadt“ Bonn geht es bereits im Juni 1990, als sich der Landrat des Kreises Ahrweiler mit der Kammerspitze zu den Folgen eines möglichen Umzuges des Regierungssitzes nach Berlin austauscht. Die Folgen für die angrenzende Ahr-Region wären drastisch, auch für die Wirtschaft. Eine HwK-Blitzumfrage ergibt „3.000 vakante Arbeitsplätze im Handwerk, die sich aus direkten Bonner Aufträgen ergeben“. Frühzeitig – und durchaus vorausschauend! – bereitet man sich mit den betroffenen Landkreisen auf diesen Teil der deutschen Einheit vor. Auch der ZDH hat seinen Sitz am Regierungssitz – noch Bonn.

Am 21. Juni findet im sächsischen Zwickau die Feier zur Vereinigung des deutschen Handwerks statt – auch mit Beteiligung der Koblenzer Kammerspitze. „Zum ersten Mal nach 45 Jahren spricht das geeinte deutsche Handwerk wieder mit einer Stimme“. Die neue Wirtschaftsmacht tritt mit 700.000 Handwerksunternehmen, über 5 Millionen Mitarbeitern und 550.000 Lehrlingen an – und das mehr als drei Monate vor der deutschen Einheit. Auch die Handwerksordnung (West) wird noch vor der Einheit vom ostdeutschen Handwerk übernommen.

Knapp einen Monat vor der deutschen Einheit ist die HwK nochmals zu Gast in Leipzig - der Stadt der großen Montagsdemonstrationen, die das Ende der DDR vorangetrieben haben. Zur Leipziger Messe (Herbst) ist die Koblenzer Kammer mit einem eigenen Stand vertreten. Prominente Besucher hier sind Bundeswirtschaftsminister Dr. Helmut Haussmann und sein Mainzer Kollege Rainer Brüderle.
Spannende und so nicht zu erwartende Ergebnisse liefert die Befragung unter 1.400 Jungmeistern Ende Oktober: Fast 60 Prozent planen ihre Selbstständigkeit im Ostteil des inzwischen wiedervereinten Deutschlands, bei den Dachdeckern sind es sogar 80 Prozent! Die Ex-DDR bietet offensichtlich viel marktwirtschaftliches Potential, handwerkliche Leistungen sind stark gefragt. Die jüngste Koblenzer Meistergeneration ist von einer deutlichen Aufbaumentalität „befallen“.

Eine Premiere kann die HwK Koblenz zum Jahresende feiern: zum ersten Mal fördert die Landesregierung von Rheinland-Pfalz finanziell eine Umweltberatung für das Handwerk. Es ist die Geburtsstunde des HwK-Zentrums für Umweltschutz und Arbeitssicherheit.