Die 1960er Jahre Handwerk und das Wirtschaftswunder
Es sind die Jahre des deutschen Wirtschaftswunders, in denen auch das Handwerk im Kammerbezirk einen starken Aufschwung erfährt. Die Betriebszahlen steigen auf über 25.000. Das bundesdeutsche Gesamthandwerk hat seit 1949 eine Umsatzsteigerung von 300 Prozent erlangt, die Beschäftigtenzahlen haben sich mehr als verdoppelt auf 4 Mio. Arbeitnehmer. Allein die Umsatzsteigerung von 1959 auf 1960 beträgt zehn Prozent und liegt bei 70 Mrd. D-Mark (im Vergleich die Industrie mit 9 Prozent Zuwachs, der Einzelhandel mit 5 %). Auf dem konjunkturellen Spitzenplatz liegen die Bauhandwerke, gefolgt von metall- und holzverarbeitenden Gewerken.

Ein Fotostudio in den frühen 1960er Jahren
Doch parallel zu diesen Erfolgsmeldungen durchläuft das Handwerk einen Strukturwandel, der im Ergebnis weniger Betriebe und mehr Mitarbeiter zur Folge haben wird. Denn sowohl die technische Entwicklung schreitet in großen Schritten voran, der Wettbewerb im Markt – auch gegenüber Massenware der Industrie - nimmt zu und handwerksrechtliche Rahmenbedingungen verändern die Ausrichtung handwerklicher Angebote. So fallen die Zahlen eingetragener Schneider, Schumacher oder auch Bäcker und Fleischer deutlich, steigen zeitgleich die Eintragungen technischer Gewerke, so der Kraftfahrzeugtechnik oder Elektroinstallation. Weniger Betriebe mit mehr Mitarbeitern und rückläufigen Ausbildungszahlen (rund 60 Prozent der angebotenen Ausbildungsstellen bleiben unbesetzt) – so lässt sich der Wandel des Handwerks im Kammerbezirk Anfang der 1960er Jahre zusammenfassen. Was Folgen hat für die Handwerksordnung, denn die technische Entwicklung verändert nicht nur die Berufsbilder, sondern sorgt auch dafür, dass immer mehr Gesellen nicht mehr in ihrem erlernten Beruf arbeiten können. Die Novelle der Handwerksordnung soll den neuen wirtschaftlichen und technischen Veränderungen gerecht werden. Neben den meisterpflichtigen Handwerken wird eine Ausübung in „verwandten Handwerken“ ermöglicht – auch ohne Meisterprüfung und nach abgelegter Zulassung im bisher ausgeübten Gewerk. Eine Weichenstellung, die das Handwerk stärken und wachsen lässt.
Die enger werdende Wechselwirkung zwischen handwerklichen Bedürfnissen und politischen Gestaltungsspielräumen führt zur Forderung durch die Führung der Kammer, dass auch die Handwerker stärker politisch aktiv werden müssen. Kammerpräsident Dachdeckermeister August Römer geht als gutes Beispiel voran und übt scharfe Kritik an der „Stellung der Bundesregierung zum Handwerk.“ Versprechungen werden gemacht, doch „nicht einmal primitivste Wünsche erfüllt.“ Die Handwerkeraltersversorgung, starke Subventionierungen der Landwirtschaft und Kohleindustrie oder auch die Gewerbesteuer als Diffamierung des Handwerks werden konkret benannt. Die Steuerpolitik der Bundesregierung, die besonders das Handwerk im Blick habe, sei ungerecht.
Politische Korrekturen könne das Handwerk umsetzen, wenn sich mehr Vertreter politisch in den Parlamenten engagieren. 23 Bundestagsabgeordnete seien dem handwerklichen Lager zuzuordnen – und das seit drei Legislaturperioden unverändert. „Dagegen habe es die Gewerkschaft fertig gebracht, die Zahl der Parlamentarier aus ihren Reihen von 87 im Jahre 1949 auf 187 im dritten Bundestag zu erhöhen.“
Erstmals Schlagzeilen macht in diesem Jahr die Planung eines neuen Ford-Werkes in Koblenz, das in Kesselheim auf rund 2 Mio. Quadratmetern errichtet werden soll und die Rhein-Mosel-Stadt zur Industriemetropole am Mittelrhein machen würde. 12.000 neue Arbeitsplätze sollen hier entstehen. Auch das Handwerk sieht in dem neuen Motorenwerk gute Chancen für den Wirtschaftsstandort, so über einen Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und die Ansiedlung neuer Mitarbeiter, befürchtet aber auch die Abwerbung von Fachkräften, gerade aus dem Kfz-Bereich. (Später wird das Werk nicht in Koblenz, sondern in Köln gebaut).
Ebenfalls 1960 eingeführt und von den Nahrungsmittelhandwerken gelobt: ein früher Ladenschluss am Samstag um 16 Uhr. Probeweise wird das an jedem ersten Samstag des Monats „getestet“ und kommt laut Fleischer-Innung Koblenz „bei den Verbrauchern gut an, beim Verkaufspersonal noch viel besser“.
Zwei Bundessiege gehen im Leistungswettbewerb der Handwerkjugend 1960 in den Kammerbezirk Koblenz: Maschinenbauer Franz Gert Haubrich aus Kausen und Radio- und Fernsehtechniker Wolfgang Arnold aus Koblenz sind bundesweit die Besten ihres Handwerks.
Und auch etwas ältere Handwerker aus dem Kammerbezirk sorgen für bundesweite Nachrichten: Schuhmachermeister Hans Lemmler gibt nach 60-jähriger „Dienstzeit“ sein Obermeisteramt auf. Er ist zu diesem Zeitpunkt 86 Jahre alt und wurde im Jahr 1900 an die Spitze der Innung gewählt. Als ältester Obermeister der Bundesrepublik hat er Geschichte geschrieben.